Hammurapi: Die Kodifizierung des Rechts

Hammurapi: Die Kodifizierung des Rechts
Hammurapi: Die Kodifizierung des Rechts
 
Im Winter des Jahres 1901/02 führten französische Archäologen ihre alljährlichen Ausgrabungen in Susa im südwestlichen Persien fort. Der gewaltige Ruinenhügel birgt in sich die Reste der Hauptstadt des Elamiterreiches, die auch in der Perserzeit noch von Bedeutung war und damals eine Burg trug. Während dieser Ausgrabungen stießen die Archäologen auf einen großen schwarzen Stein, der bereits durch seine imposante Höhe von mehr als zwei Metern auffiel. Er trägt im oberen Teil auf der Vorderseite die Darstellung eines altbabylonischen Herrschers in anbetender Haltung vor einer Gottheit, die auf einem Hocker thront, die Berge zu Füßen und eine mehrfach gestaffelte Hörnerkrone auf dem Kopf. Strahlen, die aus den Schultern hervorkommen, lassen deutlich werden, dass es sich um den Sonnengott Schamasch handelt, der in Babylonien der Gott des Richtens und zugleich des Rechtes war. Mit der ausgestreckten Rechten gibt er dem Herrscher Stab und Ring, die Insignien der gerechten Herrschaft. Wichtiger aber als diese Darstellung war und ist der Text, den die Stele aus Diorit trägt: In 51 Kolumnen ist nämlich der Text des »Codex Hammurapi« samt Prolog und Epilog auf ihr eingemeißelt. Die sorgfältige Schrift lässt erkennen, dass es sich um ein offizielles Dokument handelt, das offensichtlich der königlichen Verlautbarung diente. Diese Schrift ist archaisierend in einer Schönschrift und mit der Schriftrichtung von oben nach unten in die Stele eingemeißelt, sodass ein Babylonier, um sie lesen zu können, den Kopf nach rechts neigen musste.
 
Es war durchaus daran gedacht, dass ein Bürger dieses Denkmal als Informationsquelle benutzen konnte. Denn wie der Text zeigt, bestand offensichtlich die Absicht, durch offizielle Verlautbarung das im Lande gültige Gesetz all den Bürgern bekannt zu machen, die in der Lage waren, es tatsächlich zu lesen. Leider wissen wir nicht, wo diese Stele aufgestellt war - im Fundort Susa jedenfalls nicht. Vielmehr ist anzunehmen, dass der kostbare Stein von einem elamischen Herrscher aus einer babylonischen Stadt, die er einst erobert hatte, entführt wurde. Denn auf der Vorderseite der Stele sind einige Kolumnen ausgehauen, um eine Beuteinschrift anzubringen, die aber dann nicht zur Ausführung gelangte. Man vermutet, dass die Stele ursprünglich in Sippar, einer babylonischen Stadt, die den Sonnengott Schamasch besonders verehrte, aufgestellt wurde, jedenfalls frei zugänglich war.
 
Trotz ihrer besonderen Qualität war die Hammurapi-Stele aber kein Einzelstück; sie hatte offensichtlich Vorläufer und möglicherweise auch Nachfahren, die allerdings nicht im Original erhalten sind. Immerhin gibt es Abschriften auf Tontafeln, die vor allem im Prolog, der sich auf die historischen Taten des Königs Hammurapi von Babylon bezieht, Varianten aufweisen, die unterschiedliche Entstehungsdaten voraussetzen. Auch war dieses Dokument offenbar bald als maßgeblicher Text anerkannt, sodass er in der Schule gelehrt und in verschiedenen Abschriften bis in die babylonische Spätzeit hinein überliefert wurde. Das hatte der König auch so gewollt; ausdrücklich sagt er im Epilog seines Dokuments: Ein künftiger König möge »die Worte der Gerechtigkeit, die ich auf meine Stele geschrieben habe, beachten, das Recht, das ich dem Lande geschaffen habe, die Entscheidung für das Land, die ich gefällt habe, nicht ändern, meine Aufzeichnungen nicht beseitigen«.
 
Schon der sumerische Herrscher Urnammu, der rund 300 Jahre vor Hammurapi in Ur im südlichen Babylonien residierte, hatte »fürwahr Gerechtigkeit im Land Sumer gesetzt«, also eine vergleichbare Rechtssammlung geschaffen. Etwa 200 Jahre nach Urnammu ließ ein König von Isin mit Namen Lipitischtar ebenfalls eine Stele beschriften, von deren Text nur wenige bruchstückhafte Abschriften erhalten sind, die aber ganz ähnlich wie die Stele Hammurapis mit einem Prolog, mit Gesetzestexten und mit einem Epilog beschriftet war. Beide Texte sind noch in sumerischer Sprache abgefasst, während Hammurapi und ein wahrscheinlich fast gleichzeitiger König von Eschnunna im Dijala-Gebiet im nördlichen Babylonien sich bereits der babylonischen Sprache für ihre Rechtssprüche bedienten.
 
Hammurapis »Codex« war allerdings keineswegs ein systematisches, nach Sachgebieten und unterschiedlichen Rechtsmaterien gegliedertes Gesetzbuch. Die Bestimmungen sind vielmehr alle nach einem Schema formuliert, nach dem in einem Vordersatz der Tatbestand festgestellt und in einem Nachsatz die Strafe festgesetzt wird, die für dieses Vergehen üblich ist. Manchmal wirkt dies, als würde eine allgemeine Regel festgehalten: »Wenn ein Bürger das Kind eines anderen Bürgers stiehlt, wird er getötet.« Demgegenüber gibt es aber viele Bestimmungen, die sehr spezifisch sind. Von einer Gastwirtin heißt es etwa, dass sie, wenn sie das Bier nicht mit Naturalien bezahlen oder gar einen überhöhten Preis in Silber entrichten lasse, ins Wasser geworfen werden solle; wenn eine Gastwirtin einen Krug Bier verborge, solle sie zur Erntezeit dafür fünf Liter Gerste erhalten - dieses Ausgangsprodukt für das Bier war aber zu der Zeit, in der die Ernte stattfand, sicherlich viel billiger als in der Zeit, in der das Bier ausgeschenkt worden war, sodass die Gastwirtin einen deutlichen Profit hatte. Wir müssen also davon ausgehen, dass das Gesetzbuch nicht das Ziel hatte, allgemeine Rechtsnormen zu formulieren, sondern dass es eine Sammlung von beispielhaften Rechtssprüchen gewesen ist, die vom König Hammurapi selbst, von seinen Vorgängern oder von Richtern seiner Verwaltung bei konkreten Anlässen gesprochen worden waren und dann zur Nachahmung empfohlen wurden. Es sind also keinesfalls »Gesetze«, die eine normative Kraft hatten und allgemein verbindlich waren, sodass sich die Rechtsprechung im Land auf sie berufen konnte. Vielmehr musste jede richterliche Entscheidung neu vorgenommen werden, hatte allerdings in den Bestimmungen des »Codex Hammurapi« sicherlich gewisse Richtlinien.
 
Dass unter den vielen Tausend Rechtsurkunden der altbabylonischen Zeit nur ganz wenige in voller Übereinstimmung mit Bestimmungen des »Codex Hammurapi« stehen, bestätigt dies. Den Urkunden ist also eine beachtliche Vielfalt an Rechtsentscheidungen zu entnehmen. Allerdings war der König, der durch seine Stele als Gesetzgeber auftrat, in das Rechtsverfahren eingebunden. Er war, wie wir aus vielen Briefen, die an ihn gerichtet sind, erfahren, die höchste Berufungsinstanz. Falls es Rechtsfälle gab, die strittig blieben, konnte jede der Parteien an den König appellieren, der dann selbst in scheinbaren Bagatellangelegenheiten die letztliche Entscheidung traf.
 
Den Charakter des Codex und seiner Verordnungen beleuchten am besten einige seiner Bestimmungen. So heißt es etwa: »Wenn ein Bürger das Auge eines anderen Bürgers zerstört, so soll man ihm ein Auge zerstören. Wenn er einen Knochen eines Bürgers bricht, so soll man ihm einen Knochen brechen.. .. Wenn ein Bürger einen ihm ebenbürtigen Bürger einen Zahn ausschlägt, so soll man ihm einen Zahn ausschlagen. Wenn er einem Palasthörigen einen Zahn ausschlägt, so soll er ein Drittel Mine Silber zahlen.« Aus dem Alten Testament sind uns ähnliche Formulierungen bekannt. Das babylonische Recht ist unter gesellschaftlich gleichstehenden Personen ein Talionsrecht - Gleiches wird mit Gleichem vergolten, die Strafe entspricht der Tat. Nur bei gesellschaftlich tiefer stehenden Personen wird eine Kompensation durch Zahlung ermöglicht. Eine Anzahl von Bestimmungen kennt auch »spiegelnde Strafen«, wonach derjenige Körperteil verstümmelt wird, mit dem eine Straftat ausgeführt wurde. Im Allgemeinen sind die Strafen hart. Die Todesstrafe steht auf Kapitalverbrechen, wird aber auch sonst, etwa beim Ordal, dem Gottesurteil durch Untertauchen in einen Fluss, in Kauf genommen. Dennoch hat wohl der König seinen Vorsatz erfüllt, »Gerechtigkeit im Lande sichtbar zu machen, den Bösen und den Schlimmen zu vernichten, den Schwachen vom Starken nicht schädigen zu lassen«, wie es der Prolog sagt. Diese Grundprinzipien sozialer Ordnung, die der »Codex Hammurapi« wie auch seine Vorgänger und Nachfolger in der altorientalischen Rechtsprechung verkünden, waren die Basis für Rechtsnormen, wie sie dann Griechen und Römer, Byzantiner und Christen weiterentwickelt haben - folglich auch für unsere heutige Rechtsordnung.
 
Prof. Dr. Wolfgang Röllig

Universal-Lexikon. 2012.

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